REPORTAGE: GENUSSGEMEINSCHAFT STÄDTER UND BAUERN


Im Gegensatz zu 'Ellenbogengesellschaft' (1982), 'Reformstau' (1997) und 'Klimakatastrophe' (2007) hat es das schöne Wort 'Wertschöpfungskette' nie in die Liste für das Wort des Jahres geschafft. Vielleicht liegt es daran, dass es nie ganz klar war, ob es das Wort oder das Unwort des Jahres sein sollte. Mich beschäftigt dieses Wort -fast- tagtäglich. Denn als 'Verbraucher' entscheide ich mit jedem Einkauf, wer entlang dieser Wertschöpfungskette wieviel verdient. Da ich der festen Überzeugung bin, dass dem Erzeuger einer Ware MEHR Wert zusteht, als einem der vielen zwischengeschalteten Händler der Ware auf dem Weg zu mir, versuche ich den Handel so weit als möglich zu umgehen. Und direkt beim Erzeuger einzukaufen. Zum Beispiel, indem ich über eine Einkaufsgemeinschaft an Milch, Butter, Eier und Käse komme. Mit Marlene Hinterwinkler von der Münchner Genussgemeinschaft Städter und Bauern bei der ich selber Kunde bin, war ich zwei Tage bei 'meinen' Produzenten unterwegs.



Um 09:30 geht es im Münchner Glockenbachviertel los. In der Tiefgarage stehen Kisten und Kühlboxen, die alle in den hellblauen Kangoo verstaut werden müssen. Jeden Monat fährt Marlene Hinterwinkler mit ihrem Minilaster ins bayerische Oberland, um für ihre 80 Kunden aus dem Münchner Glockenbachviertel, aus Laim und Neuhausen, direkt beim Bauern einzukaufen. Das dahinter steckende Prinzip ist denkbar einfach: Per Mail bestellen ihre 'Kunden' was sie brauchen, Eier, Milch, Käse, Wurst, ab und zu auch Fleisch. Honig und Suppenhühner sind zusätzlich immer wieder im Angebot. Aber das sind 'Saisonartikel' die nicht ständig lieferbar sind. "Das ist eine ganz gute Lehre für meine Leut'", sagt Marlene. "Es gibt eben nicht immer alles. Saisonale Lebensmittel kennen viele Menschen ja gar nicht mehr, bei uns lernen sie das wieder". Und damit auch den Wert bestimmter Produkte zu schätzen.

Nachdem Marlene die Bestelllisten noch mal gecheckt hat, wandern die letzten leeren Eierkartons in den Wagen. Erstes Ziel: Der Löfflerhof in Farchach bei Starnberg. 




"Ich wollte im Ruhestand was Sinnvolles tun. 
Und gute Lebensmittel in die Stadt zu bringen ist so etwas Sinnvolles"
Marlene Hinterwinkler

Zwischen 700 - 1.000 Eier holt Marlene jeden Monat vom Löfflerhof. Das hängt von den Bestellungen und von den Hühnern ab. Wenn die neuen Hennen 'eingestallt' werden, wie Anfang Februar, geht die Legeleistung erst einmal zurück. Junge Hühner legen weniger Eier. Also müssen auch die Bestellungen zurückgefahren werden. Für ein paar Wochen gibt es einfach ein Frühstücksei weniger. Bis Ostern sind die Hennen aber wieder auf voller Leistung. 

Die in Ehren alt gewordenen Hühner landen dann im Topf. 250 Suppenhühner gibt es deshalb als Extra in den nächsten Wochen. Eine begehrte Delikatesse - der Suppe aus den Löfflerhof-Hühnern werden geradezu magischen Kräfte zugeschrieben. Die ersten Bestellungen hat Marlene schon, bis zum Ende der zweitägigen Reise werden schon 40 Hühner vorbestellt sein.




Den Löfflerhof bewirtschaftet Michael Friedinger. 1991 übernahm er den Hof von seinem Vater, stellte bald auf biologisch-dynamisches Wirtschaften um. Gemeinsam mit Frau Elke und den Kindern Marie-Theres und Michael versorgt er 20 Milchkühe plus dazugehöriger Nachzucht. Aber heute bildet die Legehennenhaltung das wichtigste Standbein für den Familienbetrieb. 2011 wurde ein neuer Hühnerstall mit den dazugehörigen Auslaufflächen gebaut. Bis zu 600 Hühner leben und legen hier. Damit bleiben Friedingers weit unter der für Bio- und Demeter-Eier erlaubten Größe von 3.000 Hennen pro Stall. Finanziert wurde der Stall mit Genussscheinen. Private Geldgeber zeichneten Anteile und bekommen ihre Verzinsung von 3% in bar oder 4% in Naturalien ausgezahlt. Also Eier, Suppenhühnern, Honig oder Fleisch. Alles was der Hof produziert. Das hat Vorteile für beide Seiten: Der Landwirt spart sich den teuren Weg zur Bank um einen Kredit aufzunehmen, die Verbraucher bekommen als attraktive Verzinsung hochwertige Lebensmittel. 

Während ich mit den neugierigen Hühnern im Stall erste Freundschaften schliesse, hat Marlene die bestellten Eier schon in den Kangoo verladen. Jetzt muss noch die Abrechnung in der Küche gemacht werden. Bezahlt werden die Friedingers direkt von Marlene, sie sammelt dann später bei Auslieferung das Geld von ihren Kunden ein oder lässt es sich überweisen. Auf jeden Fall landet das Geld der Kunden direkt beim Bauern.




Am nächsten Tag gibt es dieselbe Prozedur mit Bestelllisten, Kisten und Anfahrt. Nur geht es diesmal über den Irschenberg in Richtung Fischbachau, zum Leitzachtaler Ziegenhof der Familie Haase. Auch bei ihnen wurde mit Genussscheinen ein Neubau finanziert, die Käserei ermöglicht professionelles Arbeiten. Bei Martina und Werner Haase holt Marlene Käse, Milch, Yoghurt, Wurst. Der überwiegende Teil der Waren wird auf dem Hof erzeugt, ein kleiner Teil des Angebots im Hofladen von ähnlich arbeitenden Betrieben zugekauft. 




Vor allem die Milch geniesst fast schon Kultstatus unter den Kunden. Es ist eine Rohmilch, die unbehandelt in die Flasche kommt. Und die Möglichkeit bietet, selber Käse zu machen. Ein Kunde in München macht seinen Mozzarella aus der Milch, aber auch Yoghurt und Frischkäse lassen sich relativ einfach selber machen. Aber am besten schmeckt die Milch eigentlich direkt aus der Flasche. Oder zur Butter geschlagen frisch auf ein Bauernbrot - der Himmel auf Erden. Nach einem Glas frischer Buttermilch verabschieden wir uns - schließlich sitzen in München die Kunden und warten auf die Köstlichkeiten.




"Man lernt so nette Leut' kennen durch die Genussgemeinschaft!"
Marlene Hinterwinkler

Beim Ausliefern ist dann wieder Geduld erforderlich. Parkplätze sind auch für Marlene immer ein Thema. "Da steht schon die Konkurrenz", sagt sie immer lachend, wenn ein brauner UPS oder DHL-Wagen auf dem Gehweg parkt. Aber da wir heute ja zu zweit sind, geht auch das relativ reibungslos. Schwieriger ist da schon die Anwesenheit der Kunden. Denn ähnlich wie bei den Paketzustellern, muss auch Marlene damit rechnen, dass ihre Kunden entgegen der Abmachung nicht zu Hause sind. Dann muss ein freundlicher Nachbar gefunden werden, der Eier, Milch und Co. in Empfang nimmt. 



Es gibt so viele nette kleine Geschichten bei der Einkaufsgemeinschaft. 
Etwa die Untereinkaufsgemeinschaft, bei der eine Zahnärztin 
mit der Goldwaage - die sonst für die Zahntechnik verwendet wird - den Käse auswiegt.


Aber auch aus dieser Not macht Marlene eine Tugend. Apfelsaft und Eier werden erstmal beim freundlichen Töpfer Heil unten im Haus geparkt. Das bietet die Möglichkeit, auch mit ihm ins Gespräch zu kommen und Werbung für die Einkaufsgemeinschaft zu machen. Auf diese Weise hat Marlene schon einige Kunden gewonnen. Aber vor allem: Verständnisvolle Zwischenabnehmer. Von einem Kunden hat Marlene sogar den Hausschlüssel. Da er selber Verteiler ist, kann sie dort auf einen Schlag 120 Eier und 10 Liter Milch abladen. Die Kunden holen sich ihre Eier dann dort ab (So wie ich ...) 
Besonders drollig fand ich beim Ausliefern übrigens die Geschichte mit dem Kinderwagen. Marlene hatte die Information, die bestellten 40 Eier in den grauen Kinderwagen im Hausflur zu legen. Dummerweise standen dann 3 graue Kinderwagen im Flur...




Insgesamt hat Marlene einen Stamm von 80 Kunden. Die ganz unterschiedlich einkaufen. Einige nehmen nur Eier, andere alles, manche bestellen unregelmäßig. Das passt Marlene ganz gut. Denn würde alle 80 Kunden aus dem ganzen Programm bestellen, wären der Kangoo und Marlene überfordert.  "Die aktuellen Mengen kann ich gerade noch handhaben. Mehr geht nicht", sagt sie. Schön wäre es deshalb, wenn sich eine weitere Einkaufsgemeinschaft bilden könnte. Produkte und Erzeuger gibt es genug. So kommen von den Apfelbecks aus Niederbayern mit Perlemmer und Einkorn auch Getreidesorten und -produkte ins Angebot, ein Schweinezüchter hat schon angefragt und sogar ein Fischzuchtbetrieb hat seine Waren angeboten. Nur das ist für eine Person dann nicht mehr zu stemmen. Es wäre also genau der richtige Zeitpunkt, sich jetzt selber zu engagieren. Um den Bauern ein gerechtes Einkommen und den Städtern erstklassige, handwerklich hergestellte Lebensmittel 
zu sichern. Mehr Informationen dazu gibt es hier: Genussgemeinschaft




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